Text: Laslo Seyda
Fotos: Lukas Müller
Lukas Müller taucht mit Haien, großen und kleinen, blauen und weißen, ohne Käfig und mit nur einem Atemzug. Adrenalinjunkie? Von wegen! Der junge Biologe sucht nicht das Abenteuer, sondern will mit den Raubfischen Freundschaft schließen
Der Schatten kommt aus dem Nichts, irgendwo aus der trüben Brühe aus Türkis, fast hätte Lukas Müller ihn nicht bemerkt. Still und langsam zieht das Tier seine Bahnen, mit kräftigen Schwanzschlägen, musternd, abwartend. Eine Runde dreht er, eine zweite noch, dann kommt er auf den Mann im Neoprenanzug zu, der hier im Wasser schwebt. Ein Bullenhai – mit zweieinhalb Metern zwar kleiner als der Taucher mit den langen Schwimmflossen, aber ziemlich forsch. Erst wenige Zentimeter vor Müller dreht das Tier ab. Würde Müller nicht bereits die Luft anhalten, ihm würde bestimmt kurz der Atem stocken.
Lukas Müller, 28, dunkelbrauner Schopf, wacher Blick, ist Apnoetaucher – einer dieser Extremsportler, die ohne Sauerstoffflasche unter Wasser gehen, frei, mit nur einem Atemzug. Mehr noch: Er taucht mit Haien. Ob Hammerhai, Bullenhai, Tigerhai oder der Große Weiße: Lukas Müller kommt ihnen näher als kaum ein anderer Mensch. Er schaut den Räubern tief in den Rachen, ohne Käfig oder Netz, ganz direkt. Ist das nicht leichtsinnig, ja vielleicht sogar lebensmüde?
Wer das verstehen und die Motivation dahinter nachvollziehen will, muss ganz tief hinabtauchen in Lukas Müllers Biografie. Mit zweieinhalb Jahren habe er mit seinen Eltern den Aquazoo in Düsseldorf besucht, erzählt der junge Mann, wo Riffhaie in einem gewaltigen Becken schwimmen. Stunden habe er vor der dicken Glasscheiben gestanden, er sei aus dem Staunen nicht rausgekommen. „Ich konnte einfach nicht glauben, dass es Fische gibt, die größer sind als ich.“ Im Alter von vier Jahren zeigt Vater Ralph ihm seinen ersten Blauhai, im kristallklaren Wasser einer Bucht auf Menorca. Ein Jahr später dann sieht der kleine Lukas, wie Fischer auf Gran Canaria einen Dornhai an Deck ihres Kutters bringen und ihn in einem Eimer ausbluten lassen. Er ist noch keine fünf Jahre alt, da versteht Müller bereits, wer in den Ozeanen unseres Planeten der eigentliche Gejagte ist. Bilder, die Spuren hinterlassen. „Es sind fast die einzigen Erinnerungen aus dieser Zeit.“
Vor acht Jahren dann kommt es zur entscheidenden Begegnung: Beim Käfigtauchen in der Nähe von Kapstadt schwimmt ein fünf Meter langer Weißer Hai von hinten ans Gitter heran. Seine scharfen Zähne sind nur wenige Zentimeter von Lukas Müllers Füßen entfernt. Die blauen Augen schauen ihm direkt ins Gesicht, neugierig, vielleicht auch ein wenig scheu, auf jeden Fall aber ganz ohne Aggression. Adrenalin pocht durch Müllers Adern, aber auch freudige Aufregung. „In diesem Moment wusste ich, dass ich diese Tiere zu schützen muss.“
Seitdem verbringt der Junge aus dem Ruhrgebiet jede freie Minute im Wasser: Er arbeitet als Bootsjunge für Cage-Diving-Anbieter, hospitiert bei Naturfotografen und schnorchelt in Familienurlauben acht, neun Stunden am Stück. Seine Haut ist manchmal so verschrumpelt, dass er tagelang Pause machen muss. Zeitgleich schreibt sich Müller für ein Biologie-Studium an der Uni Bochum ein und bringt er sich selbst das Freitauchen bei – damit kann man sich Unterwasserwesen nähern, ohne sie mit den lauten und ungewohnten Geräuschen von Tauchcompunter, Pressluftflasche und Atemregler zu irritieren oder zu verjagen. 2013 dann tritt er der Non-Profit-Organisation The Watermen Project bei. Vor Südafrika, den Bahamas oder Mexiko versinkt er mit Profitauchern und Forschern im unendlichen Blau, um Verhaltensmuster von Haien zu studieren, ihnen Gewebeproben zu entnehmen oder sie mit GPS-Sender zu markieren. Exemplare mit tiefen Narben sind dabei, mehrere Tonnen schwer, mit spitzen Zähnen und Gebissen so breit wie ein Kleinbus.
Taucht die Angst da nicht oft mit? Nein, sagt Lukas Müller mit einer Stimme, die tief und ruhig und ohne Zweifel ist. Seine Eltern hätten ihm etwas Entscheidendes beigebracht: „Nichts auf der Welt kategorisch in gefährlich und ungefährlich einteilen.“ Die anhaltende Sorge seiner Mitmenschen sei für ihn aber der Beweis dafür, wie weit wir uns von der Natur entfernt haben. Dann erzählt er, wie sein Vater, selbst Abenteurer, früher oft mit ihm und seinem Bruder Marco zum Spielen in den Wald ging. Schnell entwickelten die Jungen einen Sinn dafür, welche der Bäume zu morsch zum Klettern waren. Bei den Urlauben am Meer wurde ihnen in aller Ruhe erklärt, welche Quallen giftig sind und dass man im nicht einfach um sich schlagen soll. Wenn sie beim Angelurlaub in Schweden Flüsse durchqueren wollten, sollten sie erst prüfen, welche Steine rutschig sind und wo die Strömung am schnellsten ist. Und wenn sie auf La Gomera an den Klippen entlangklettern wollten, wurde überlegt, ob die Flut ihnen den Rückweg abschneiden könnte – und wie man im Fall des Falles wieder heil aus dieser brenzligen Lage herauskommt. Konzentration statt Panik.
Eine wichtige Lektion des Vaters hat Lukas Müller fest verinnerlicht. „Ob Karpfen, Grizzly oder Fliege: Alle Tiere, die in freier Natur leben, sind wild.“ Genauso verhalte es sich auch mit Haien. Sie seien keine blutrünstigen Monster, sondern einfach Raubtiere, die ihren Instinkten folgen. „Es gibt keine gefährlichen Haie. Nur gefährliche Situationen mit ihnen.“ Diese Erkenntnis hilft dem jungen Biologen noch heute bei seinen Expeditionen.
Jetzt, im Mai 2018, ist Müller in eigener Sache unterwegs, auf seinem ersten eigenen Forschungstrip, im Bazaruto-Archipel vor Mozambik. Weiße Strände liegen vor roten Hügeln aus Lehm, auf denen der Dschungel dicht blüht. Die letzten Kilometer vor der Küste ist das Wasser flach, es strahlt zwischen grün und blau, mittendrin liegen gewaltige Sanddünen –geformt vom Fluss Sabie, der hier einst ins Meer mündete. Zwischen den Inseln schwimmen Schildkröten, Delfine und Dugongs. In den blühenden Korallenriffen tummeln sich Dories, Falterfische oder Makrelen. Ein intaktes Ökosystem. Ein vergessenes Paradies.
Lukas Müller ruft eine Stunde später an als verabredet. Er habe noch auf einer der Sandbänke festgesessen, erzählt er, die Flut kam später als erwartet. „Dieses Ökosystem ist kaum erforscht und unberechenbar.“ Als Vorbereitung für seine Doktorarbeit begleitet er gerade die Meeresbiologin Dr. Andrea Marshall und den Umweltschützer Janneman Conradie, die vor Ort auf der Suche nach Populationen von Bullenhaien sind.
Müller erklärt, dass die Flut den Pegel im Archipel manchmal um mehr als vier Meter anhebt, sich neue Wasserwege bilden und manche der Tiere aus dem Ozean in den seichten Gewässern zwischen den Sandbänken verirren. Dahin, wo die Einwohner mit Booten nach Oktopussen, Krabben, Fischen und andere Meerestieren jagen. Oft schnappen die Haie den Fang von den Leinen. Eine wirtschaftliche Bedrohung: Bei einem Einkommen von kaum mehr als 150 Euro gefährdet jeder verlorene Fisch die Lebensgrundlage. Sein Skipper Zito, so Müller, nenne die Haie nur noch als tax men, Steuereintreiber, pfui! Schlimmer seien aber die Angriffe auf die Menschen: Dann treten oft bei trübem Wasser auf, wenn sich die Haie auf ihren Geschmacks- statt auf ihren Sehsinn verlassen und Fischer, die bei Ebbe mit langen Netzen durchs hüfthohe Wasser laufen, mit ihrer Beute verwechseln. Der Hass auf die Haie mündet dann oft in einer Treibjagd. Lukas Müller will das verhindern. Sein Ziel: Gefährdete Gebiete für die Fischerei sperren lassen will, Aufklärung in Schulen betreiben und so das Bewusstsein der Bevölkerung zu ändert. Die Furcht soll der Faszination weichen.
Um das zu erreichen braucht es erst einmal einen Haufen Daten: Welche Gewässer suchen die Hai auf, zu welcher Tagesszeit sind sie aktiv und bei welchen Temperaturen? Und: Welche Auswirkungen haben Strömungen, Mondphasen oder das Erdmagnetfeld auf ihr Verhalten? Hinweise über die Haie von Bazaruto, die sie mit Sendern markieren wollen, holen sich die Forscher bei den Anglern, Fischern und anderen Tauchern: Informationen darüber, wann genau die Räuber gesehen wurden; ob sie knapp unter der Wasseroberfläche schwimmen oder tief unten im Meer; ob sie in Gruppen unterwegs sind oder alleine; ob es in der Umgebung viele Beutetiere gibt. In der Regel halten sich Bullenhaie im selben kleinen Gebiet auf, so Müller, meist in der Nähe von Korallenriffen. „Man muss sich aber immer daran erinnern, dass es selbst innerhalb einer Art unterschiedliche Verhaltensweisen gibt. Bei jeder Expedition fange ich also bei Null an.“ Außerdem: Unter den Haien seien sie die Art mit dem meisten Testosteron. „Sie trauen sich was, kommen schnell ans Boot und lassen in großen Gruppen gerne anstacheln.“ Und als Kostprobe möchte Müller nicht herhalten.
Eine gute Vorbereitung ist für ihn die einzige wirkungsvolle Maßnahme gegen diese Unberechenbarkeit. Das bedeutet – natürlich – intensives körperliches Training: Mehrmals die Woche betreibt der junge Mann Kraft- und Ausdauersport. Schließlich muss er in der Verfassung sein, über zwei Stunden mit seinen Schwimmflossen gegen schwere Strömung anzuschlagen oder einen verletzten oder erschöpften Tauchpartner an Bord zu ziehen. Außerdem macht er regelmäßig Yoga und Dehnübungen. Damit kann er im Zweifel eine schnelle 180-Grad-Drehung vollführen, sollte sich ein Hai aus dem toten Winkel nähern.
Die Vorbereitung schließt aber auch eine lückenlose Logistik ein. Sicherzustellen, dass die Solarpaneele für die Stromversorgung funktionieren, das Malariamittel eingepackt ist, genug Bargeld im Portemonnaie steckt oder alle die Adresse des nächsten Krankenhauses kennen, das gehört für Lukas Müller zum Einmaleins der Haitaucher. „Wenn ich aufgrund schlechter Planung und fehlerhafter Ausrüstung Stress oder Ärger habe, kann ich gleich an Land bleiben. Dann bin ich nicht bei der Sache. Und dann passieren Fehler.“
Vor jedem Tauchgang nimmt er sich deshalb eine Stunde Zeit für Meditation, hört in sich hinein. „Wie leistungsfähig bin ich heute? Fühle ich mich krank? Lenkt mich irgendetwas ab? Dabei geht es viel um Ruhe, Balance, den inneren Fokus.“ Der junge Mann aus Essen redet auf einmal, wie man es sonst nur von alten Mönchen im fernen Osten kennt. „Nur wenn alles geklärt ist, wenn ich wirklich tiefenentspannt und selbstbewusst bin, kann ich auch ins Wasser steigen.“ Genau wie See-Elefanten oder Delfine würden auch wir Menschen physiologische Signale aussenden, durch unseren Herzschlag und unsere Körperhaltung. Die einzige Wahl: Konzentration statt Panik. „Ansonsten ist das wie eine Einladung für die Haie.“
Rechtzeitig vom Boot hinabzutauchen, sich in eine vorteilhafte Position zu bringen und sein Revier zu markieren, darauf komme es an, sagt Lukas Müller. Und zu wissen, wann es Zeit wird, das Wasser zu verlassen. Zum Beispiel, wenn die Haie ihre beiden Brustflossen nach unten drücken, ihren Kiefer nach vorne recken, hektisch die Richtung ändern oder gezielt aus seinem Blickwinkel verschwinden – Zeichen für Angriffslust und Abwehrhaltung. Dazu aber lässt es Lukas Müller gar nicht erst kommen. Seine Erfahrung mit der Natur warnt ihn schon lange vor einer gefährlichen Situation. „Als Biologe musste ich erst einmal lernen, meiner Intuition zu vertrauen. Dafür gibt es kein Handbuch, dafür muss man einen sechsten Sinn entwickeln.“ Außerdem: Wenn er erst einmal 20 Meter tief im Meer schwebe, mit Tausenden Tonnen Wasser über sich, bei sinkendem Herzschlag, mitten unter Räubern, und sich immer noch gut fühle, dann sei das vor allem eines für ihn: vollkommene Befreiung.
Hat Lukas Müller denn wirklich gar keine Bedenken? Nein, nicht im Geringsten. „Haie sind keine Gefahr für uns“, sagt Müller noch einmal. „Wir Menschen müssen einfach nur lernen, ihre Sprache zu verstehen.“ Mit anderen Worten: Gib mir die Flosse.
Oben ↑